Laudatio von Manfred Etten

 

 

Liebe Gäste., liebe Besucher, herzlich willkommen zur Ausstellung „Hier ist dort – Bilder von überall“.

 

Zur Eröffnung von meiner Seite keine Einführung in Leben und Werk von Jean Lessenich, Beate Lambrecht, Eberhard Marx und Nadja Hormisch. Auch Sinn und Ziel der Ausstellung kann ich Ihnen leider nicht mitteilen. Statt dessen erlaube ich mir – oder erlauben Sie mir bitte – obwohl ich weder Maler noch Textilkünstler bin, mich an dem Ereignis zu beteiligen, indem ich, sozusagen im Eingangsbereich, vier eigene Stücke dazuhänge oder dazustelle: Vier Stücke, Bilder oder Objekte, passend zu den vier Künstlerinnen/Künstlern, wobei jedes Stück für alle stehen soll. Ich nenne sie: „Grenzen“, „Räume“, „Geister“ und „Gewebe“.

 

Hier – dort – überall: Schon im Titel der Ausstellung sind sie genannt: die

 

„Grenzen“.

 

Und zugleich auch schon überschritten, ja ignoriert und geradezu abgeschafft, denn es heißt ja nicht „von hier nach dort“, sondern „hier ist dort“ – und das „überall“ ist grenzenlos…

 

Das Überschreiten und Überwinden von Grenzen, ihr Verschwimmen, Aufleuchten und Wiederwegdunkeln, die Übergänge, das Hinübergehen, der Schritt auf die andere Seite und wieder retour, Überwechseln und Wiederkehren – davon erzählen und das praktizieren alle Vier auf ihre jeweils eigene Art.

 

Geografisch und leibhaftig haben Eberhard und Jean, beide vom Schicksal einigermaßen herumgeschleudert, schon so manche Grenzen überschritten: Eberhard diejenigen zwischen Elbe und Rhein, einem Leben dort und einem Leben hier; wie Jean hat er jenseits des Großen Wassers die amerikanische frontier aufgesucht… Jean sprang und springt derweil über die Grenzen zwischen den Geschlechtern, überbrückt die Pole – und in seiner Person verschmilzt er noch dazu den Ethnologen mit dem Künstler und den Stamm der Rheinländer mit dem der Navajos… und in ihren Werken tun die beiden Maler entsprechend dasselbe, bezeichnen und überschreiten die Grenzen zwischen den Kulturen und Kontinenten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Körper und Geist, Wesen und Erscheinung... und etwas sehr Ähnliches tun auch Beate und Nadja, indem sie sich, die Grenzen thematisierend und missachtend, vom Stoff zur Magie, vom scheinbar unscheinbaren kleinen Ding, von Faser, Rost und Glimmer zur großen Bedeutung, vom (noch) Vorhandenen zum nur (noch) Erinnerten und wieder zurück bewegen – bis aus dem immer schnelleren Wechsel zwischen „hier“ und „dort“ ein flirrendes „überall“ geworden ist.

 

So kriege ich sie also alle Vier unter einen Hut, oder besser: unter dieselben Fittiche. Denn: Schauen Sie genau hin, Sie werden sehen, dass bei allen Vieren der Schwarze Vogel, der Rabe oder die Krähe, sein Wesen treibt und seine Schwingen breitet: Schwermutsvogel bei Eberhard, Erinnerungsbote bei Nadja, bei Beate als Fundfeder präsent… zweifellos derselbe Schwarze Vogel, dem auch Jean bei den Navajos begegnet ist: der black god, der Herr der Tiere. So ein Vogel schert sich nicht um Stammes- oder sonstige Grenzen; in seiner Perspektive, in seinem Raumkonzept ist „hier“ immer auch „dort“.

 

Damit sind wir aber schon längst beim zweiten Bild, oder genauer: im zweiten Bild, nämlich in den

 

„Räumen“.

 

Wer Grenzen überschreitet, der öffnet, betritt – ja schafft geradezu die Räume, die dahinter, jenseitig liegen: die jenseitigen Räume.

 

Eberhard schafft, auch da, wo er sich die sogenannte Wirklichkeit zum Vorbild nimmt, stets Traumlandschaften, phantastische Räume, Alternativ-Räume, Gegenwelten, geprägt von Heimweh und Fernweh und einer schmerzvollen Sehnsucht, von „Befindlichkeit“ und „Erinnerungen“ (beide Bilder hängen hier), die diese Landschaften unter der Hand immer auch zu Seelenlandschaften werden lassen.

 

Jean ist währenddessen dem genius loci auf der Spur; dabei setzt er sich mit den Örtlichkeiten und Landschaftsräumen nicht nur bildnerisch auseinander, er setzt sich ihnen auch unmittelbar physisch aus – und er setzt, pflanzt demnächst auch etwas in sie hinein: die männlich/weiblichen Gebetsstäbe: ein Mal, eine Markierung, die sagt: dieser Ort, auch wenn man es ihm nicht gleich ansieht, ist bedeutsam: „Hier kann, hier wird etwas geschehen“. Damit macht er den Raum, den Ort eigentlich erst sichtbar, erlebbar, existent, real.

 

Ein anderer genius loci, melancholischer und leicht katastrophisch, bei Eberhard: In seinen Bildern von historischen Schlachtfeldern sagt er nicht „Hier wird etwas geschehen“, sondern „Hier ist etwas geschehen“: Und er gibt damit dem Raum ein Gedächtnis, macht das Geschehene, das Vergangene wieder gegenwärtig – etwa indem er mit seinem Bild „Omaha Beach“ dasjenige visionär heraufbeschwört, was man heute an Ort und Stelle nicht mehr sehen kann, was aber immer noch dort umgeht.

 

Über die Beziehung zwischen „hier und „dort“, den diesseitigen und den jenseitigen Räumen, gibt uns auch Beate nähere Auskunft: Das Durchgangstor, das Stargate zur anderen Welt ist gar kein Tor, sondern ein Pergola-Vorhang! Der Zugang zum Parallel- oder Alternativ-Raum ist nicht verrammelt oder versiegelt, sondern allenfalls verhängt, verschleiert, kaschiert. Wer das erkannt hat, kann jederzeit hindurch.

 

Mir scheint, die beiden Textilkünstlerinnen machen auf ihre Weise im Grunde nichts anderes als die beiden Maler: Auch Beate und Nadja machen ihre Leinwand/Stoffwand durchlässig für den Blick / den Weg in die jenseitigen Räume, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz handfest-konkret – Beate, indem sie die Leinwand sozusagen aufschlitzt und in Streifen zerlegt; Nadja, indem sie den Stoff tausendfach, ja anscheinend millionenfach perforiert mit ihren Stickereien, bis er zu einer von beiden Seiten her durchlässigen Membran geworden ist…

 

Sie merken es, längst sind wir bei den

 

„Geistern“

 

angelangt und mitten in deren Gesellschaft. „Das Nichtsichtbare ist das Eigentliche!“: So steht es schon auf der Einladung. Wir wissen jetzt genauer, was das heißt. Von den Navajos erfahren wir, dass die ausgestorbenen Tiere nicht verschwunden sind, sondern nur unsichtbar: Der Gott der Tiere hat sie ins Innere der Berge genommen. Nicht nur Tiere können aussterben, auch Dinge und Orte; sie werden unsichtbar, sind aber trotzdem, oder vielmehr: gerade deshalb und umso deutlicher vorhanden – als Erinnerung.

 

„Was war, ist noch“: Davon reden in dieser Ausstellung nicht nur Nadjas Objekte, allesamt Erinnerungsträger, die dem endgültigen Verschwinden, dem Tod ein Schnippchen schlagen wollen, indem sie an seine Stelle die ewige Verwandlung setzen.

 

Und schließlich Beates Redestäbe: Die Medizinmänner, die gekommen waren zum Medizinmännerkongress, haben sie hier abgestellt; dann sind sie verschwunden, vielleicht ausgestorben, vielleicht haben sie sich zu reinen Geistwesen verdünnisiert… die Stäbe aber stehen noch da und reden von ihren nunmehr unsichtbaren Besitzern.

 

Bleibt noch mein viertes Bild oder Objekt: das

 

„Gewebe“.

 

Was hat es damit denn nun auf sich? Weben – Gewebe – Textilien – Textur – Text; der Stoff, das Spinnen, die Spinnerei, die verlorenen Fäden… Klingt nach Wortspielen, ist aber mehr, erinnert uns nämlich daran, dass auch die Sprache auf der Verwandlung beruht: Metapher, Metamorphose, Transformation, Transzendenz –also Hinübergehen, also Grenzüberschreitung.

 

So habe ich also an Eure Werke – lieber Eberhard, liebe Nadja, liebe Beate, lieber Jean – meine Texte drangehängt und hänge sie jetzt wieder ab. Die waren unsichtbar, aber vorhanden, nämlich in Ihren Köpfen, liebe Zuhörer.

 

 

 

Ahrweiler

08. Mai 2010

 

 

Manfred Etten